Kann man Wähler “mitnehmen”?

Die Erfolge der AfD führen bei den “etablierten” Parteien derzeit zu hektischer Aktivität.  Man will so tun, als könne man das Problem ignorieren und aussitzen. Und gleichzeitig merkt man: damit geht das Problem nicht weg. Irgendwie muss man sich wohl mit den programmatischen Positionen der AfD auseinandersetzen. Das dann aber bitte ohne die Anfragen der AfD an den politischen Status Quo so ernst zu nehmen, dass es Folgen für die eigene Politik hätte. Die Schuld sucht man stattdessen vorrangig bei den Wählern. Und irgendwie geht das Problem damit nicht weg.

Ein klassisches Beispiel dafür hat heute die Zeit in einem drolligen Artikel geliefert. Es geht um den CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs.

CDU-Politiker Fuchs mahnt eine Analyse an, ob sich Wähler von der Union nicht mehr ausreichend mitgenommen fühlen.

Als ehemaliger CDU-Wähler gebe ich meinen Widerspruch wie folgt zu Protokoll:

Wie bitte? Die CDU geht einen Weg, weit weg von ihren bisherigen konservativen Positionen. Und fragt sich dann, ob und wie man da die bisherigen Wähler “mitnehmen” kann? Und will dann mal anfangen, darüber nachzudenken, ja zu analysieren, ob das nur so möglicherweise, vielleicht nicht geklappt haben könnte?

Ich dachte eigentlich bisher, dass Demokratie anders funktioniert, nämlich dass Parteien sich darum kümmern, was ihre Wähler wollen. Stattdessen sollen sich nun die Wähler “mitgenommen” fühlen. Womöglich mit Betonung auf “fühlen”? Danke nein. Ich fühle mich von der CDU schon lange nicht mehr vertreten.

Fuchs führt weiter aus:

“Wir müssen uns zwar nicht mit der Partei AfD oder ihren Vertretern selbst beschäftigen, wir müssen uns aber mit den politischen Inhalten auseinandersetzen, die viele Menschen zur Protestwahl oder vermehrt zur Nichtwahl bewegen”

Auch das verwundert. Da gründet sich innerhalb von wenigen Monaten eine Partei, die vor einem Jahr fast in den Bundestag gekommen wäre, die dann ins Europaparlament einzieht, aus dem Stand mit 7 Prozent (!), und die dann in drei Landtagswahlen vorführt, dass sie dort 10% holen kann. Und dann will man sich allen Ernstes NICHT mit dieser Partei und deren Politikern auseinandersetzen? Auch das stellt so ziemlich alles in Frage, was ich in der Schule darüber gelernt habe, wie Politik, wie insbesondere parlamentarische Demokratie funktioniert. Nämlich dass man miteinander redet.

Nur zur Erinnerung: das Wort Parlament stammt ab von dem französischen Verb “parler”, und das heißt reden.

Ich teile im Übrigen nicht die Auffassung von Herrn Fuchs, dass es sich bei den Wählern der AfD um Protestwähler handelt. Ich gehe vielmehr davon aus, dass jeder Wähler sich überlegt, bei welcher Partei er sich mit seiner Stimme am besten vertreten fühlt. Und wer sich hinreichend nicht-vertreten fühlt, geht eben nicht zur Wahl oder gründet etwas eigenes. Auch das habe ich mal so gelernt, auch an der Schule. So gesehen, gibt es keine Protestwähler. Es gibt nur Wähler, die sich von ihrer ehemaligen Partei nicht vertreten fühlen.

Wer, wie Fuchs es hier tut, 10% der Wählerschaft zu Protestwählern erklärt, denen man die eigene Politik nur besser hätte erklären müssen, um sie “mitzunehmen”, wohin auch immer die CDU gerade reist, der muss sich nicht wundern, wenn die Wähler sich dann nach einer Alternative umsehen.

Heiko Evermann

(Nachtrag:

  1. Der Artikel erschien am 16.09.2014 auf evermann.de und ist im Dezmber 2019 hierher umgezogen.
  2. Im Frühjahr 2016 bin ich selbst in die AfD eingetreten.)