Was bedeutet Krieg für eine Familie? In der Ukraine sind auf beiden Seiten Zigtausende gestorben. Es will mir nicht in den Kopf, dass dies für viele, mit denen ich über den Krieg in der Ukraine spreche, noch immer nicht genug ist. Sie betrachten doch tatsächlich mehr Tote auf beiden Seiten als einen Beitrag zur Lösung des Konflikts. Für all diejenigen, sie so jung sind, dass sie nicht wissen, was Krieg bedeutet, habe ich aufgeschrieben, was der Zweite Weltkrieg für meine Familie bedeutet hat. Rechnet bitte mal hoch, wie oft Ihr das vervielfältigt sehen wollt.
Günter Evermann, Ostfront
Mein Vater, Günter Evermann (1922-2022) wurde im Zweiten Weltkrieg eingezogen, zunächst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes für Hilfstätigkeiten. Im Russlandfeldzug wurden er und seine Kameraden dazu abgestellt, Eisenbahnlinien gegen Partisanen zu sichern (“Streckenposten”). Anschließend ging es zur Wehrmacht. Er wurde schon kurz darauf an der Front von einer Granate getroffen und kam nur knapp mit dem Leben davon.
Er war am Vormarsch in den Kaukasus beteiligt. Er war bei denjenigen Einheiten, die am weitesten bis nach Osten vorgedrungen waren. Während des deutschen Rückzugs wurde seine Einheit von den Russen überrannt und aufgerieben. Er war einer der wenigen seiner Einheit, der dabei mit dem Leben davonkam. Zu Kriegsende war er in der Tschechoslowakei. Seine Einheit wollte sich den Amerikanern ergeben, aber die Amerikaner ließen das nicht zu. Es folgte Kriegsgefangenschaft in Russland.
Der Krieg hat meinem Vater nie losgelassen. Je älter er wurde, desto fester hatte der Krieg ihn im Griff. Als ich 17 war, fing er an, zu vergleichen, wo er war, als er so alt war wie ich damals. Und er erlebte den ganzen Krieg noch einmal.
Wenn er von etwas erzählte, war es meistens der Krieg. Im hohen Alter wurde er dement. Dies prägte zunehmend die letzten 10 Jahre seines Lebens. Es waren immer wieder dieselben Geschichten vom Krieg. Mit zunehmender Demenz erzählte er dieselbe Geschichte am Tag auch mehrmals, weil er vergaß, dass er sie schon erzählt hatte.
Er litt lebenslang unter Albträumen vom Krieg.
Willi Ebermann, Bäckermeister
Will Ebermann (1887-1954) war der Vater meines Vaters. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg, aus Altersgründen aber nicht im Zweiten. Er hatte in Hamburg-Altona eine Bäckerei.
Willi Ebermann ist während der Bombenangriffe auf Hamburg zweimal verwundet worden. Die Details davon kenne ich nur in Auszügen. Einmal war im Keller. Eine Bombe in der Nähe führte zu einer Druckwelle, die ihm die Kellertür entgegenschleuderte, als er sie gerade schließen wollte. Ein anderes mal war in einem Eisenbahntunnel.
An den Folgen der Verletzungen litt er zunehmend. Er starb mit nur 67 Jahren, er konnte aber nach dem Krieg schon nicht mehr arbeiten. Mein Vater, Günter Evermann, musste nach dem Krieg parallel zum Studium in der Bäckerei arbeiten, um die Familie zu ernähren. (Mein Vater hatte noch drei Geschwister.)
Wilhelm Krapalis, an der Ostfront gefallen
Wilhelm Krapalis (1909-23.09.1942) ist mein Großvater mütterlicherseits. Er hatte zwei Kinder:
- Hildegard (*1938)
- Wilfried (*1940)
Als er starb, war seine Tochter 4 Jahre, sein Sohn zwei Jahre alt. Im Krieg diente er als Sanitäter.
Einberufen zum Ersatzheer im Mai 1940. Sanitätsausbildung in Neumünster. Der Wehrpass weist bis 1942 “Neumünster” aus. Im März 1943 ging es nach Russland. Im September 1943 kam dann ein Brief nach Hause:
Sehr geehrte Frau Krapalis!
Mir obliegt die schwere Pflicht, Sie von dem Heldentod Ihres Ehemannes des Gefr. Wilhelm Krapalis, in Kenntnis zu setzen. In dem Gefecht nördlich Saborje am 23.9.42 viel er in treuer Pflichterfüllung getreu seinem Fahneneide für Führer und Vaterland.
Ich spreche Ihnen, zugleich im Namen seiner Kameraden, meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren.
Ihr Ehemann gehörte bereits längere Zeit der Kompanie an und hatte sich die Achtung seiner Vorgesetzten und die Liebe seiner Kameraden erworben. Es war nicht der erste Einsatz, den er mitmachte. Manch harte Auseinandersetzung mit dem Feind hatte er bereits hinter sich. Mutig und unerschrocken stürmte er mit in den ersten Reihen, um verwundeten Kameraden Hilfe angedeihen zu lassen. Bei dieser Hilfeleistung erreichte auch ihn das tödliche Geschoss. Ein Herzschuss führte seinen baldigen Tod herbei.
Kameraden haben ihn in Saborje beigesetzt. Hier ruht er neben Kameraden, die schon vor ihm gegangen sind, sie die uns allen ein Leben der steten Einsatzbereitschaft vorgelebt haben und uns stets leuchtendes Vorbild sein werden. Ihr Leben fand die höchste Erfüllung.
Möge die Gewissheit, dass Ihr Ehemann sein Leben für die Grösse und den Bestand des deutschen Volkes und Reiches hingegeben hat, Ihnen Trost in dem schweren Leid sein, das Sie betroffen hat.
Ich grüße Sie in aufrichtigem Mitgefühl
Gez. Royan
Oberleutnant u. Kompanieführer
Eine schriftliche Rückfrage meiner Großmutter (deren Inhalt mir nicht bekannt ist,) wurde im November 1942 so beantwortet:
Sehr geehrte Frau Krapalis!
Auf Ihr Schreiben vom 23. Oktober teile ich Ihnen ergänzend zu dem Heldentode Ihres Ehegatten mit:
12,30 war die Stunde seines Todes an einem sonnigen Tage. Der ganze Kompanietrupp war in seiner Nähe. Nachdem ihn die feindliche Kugel getroffen hatte, sprach er kein Wort mehr. Er starb ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Sein Tod war schmerzlos. Die tödliche Kugel traf ihn, als er einen schwerverwundeten Kameraden verband.
Mit der nochmaligen Versicherung, daß ihm die Kompanie ein ehrendes Andenken bewahren wird, grüßt Sie in stillen Mitgefühl
Royan
Oberleutnant und Kom. Führer.
Ob diese Ausführungen glaubwürdig sind? Mal angenommen, sie wären es nicht. Hätte man der hinterbliebenen Ehefrau dann geschrieben „Ihr Ehemann hat mehrere Tage heldenhaft mit dem Tode gerungen und ist dann verstorben“?
Im folgenden März kam dann noch eine Urkunde über den Heldentod hinzu.
Meine Mutter wuchs danach ohne Vater auf. Ebenso wie ihr Bruder, mein Onkel.
Hildegard Evermann geb. Krapalis
Meine Mutter, Hildegard Evermann (1938-2022) verlor durch den Krieg ihren Vater, meinen Großvater, also sie vier Jahre alt war.
Erzählungen über meinen Großvater sind damit auch spärlich. Als sich die Bombenangriffe auf Hamburg häufen und nach dem Tode ihres Vaters, kam meine Großmutter mit ihren beiden Kindern in die Landverschickung nach Bayern. Beim ersten Versuch gab es am Hauptbahnhof Luftalarm. Als sie am Hauptbahnhof Hamburg ankamen, gab es Fliegeralarm. Meine Großmutter schaffte es mit den beiden Kindern gerade noch in den Bunker. Kurz nach ihnen wurden die Türen verschlossen, weil der Schutzraum voll war. Die Schreie derjenigen, die es nicht in den Bunker schafften (und die vermutlich ums Leben gekommen sind), konnte meine Mutter noch immer hören. Dies ist die zentrale Erinnerung meiner Mutter an den Zweiten Weltkrieg, sie hat über die Jahre mehrfach davon gesprochen.
Nach dem Ende des Luftalarms fuhren die Züge mehrere Tage nicht mehr, weil der Bahnhof schwer beschädigt war. So ging es zunächst zurück zur Wohnung nach Hamburg-Eimsbüttel. Auch die Straßenbahn fuhr zunächst nicht. Auf dem Fußweg (ca. 4 km) zog meine Großmutter den Kindern die Mützen über den Kopf, sie sollten die Zerstörungen und die Opfer nicht sehen.
Meine Schwiegermutter: Flucht aus Ostpreußen
Auch die Familie meiner Ehefrau wurde vom Krieg getroffen. Meine Schwiegermutter ist 1944 in Königsberg geboren. Ihre Mutter floh 1945 mit den drei Kindern vor den anrückenden Russen. Ihr Vater schaffte es gerade noch aus Königsberg. Er saß zunächst als unabkömmlich noch in Königsberg fest.
Der Vater meines Schwiegervaters: Stalingrad
Der Vater meines Schwiegervaters war Zahnarzt und arbeitete während des Krieges als Gesichtschirurg. Von dieser Arbeit waren einige Fotos (vorher-nachher-Vergleich) erhalten, die meine Frau vor einigen Jahren der Hamburger Universität für die medizinische Sammlung übergeben hat. Die Fotos sahen schlimm aus.
Was bedeutet Krieg für die Opfer und die Angehörigen?
Für all diese Auswirkungen des Krieges ist es ziemlich egal, auf welcher Seite des Krieges man kämpft. Die Urkunde über den Heldentod sieht auf beiden Seiten gleich aus.
Gestorben wird auf beiden Seiten gleich. Kriegsverletzungen sind auf beiden Seiten gleich. Fehlende Väter sind auf beiden Seiten gleich. Zivile Opfer sind auf beiden Seiten gleich.
Ob es sich für die Kriegswitwe nach dem Krieg besser anfühlt, wenn man auf der Gewinnerseite steht, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Ich kenne aus unserer Familie nur die Situation, im Krieg auf der Verliererseite zu stehen. Ich gehe aber davon aus, dass sich aus dem Sieg der eigenen Seite kein nennenswerter emotionaler Gewinn ziehen lässt, der auch nur ansatzweise den Tod des Ehemanns, den Tod des Vaters oder den Tod des Sohnes aufwiegen könnte.
Zurück zur Ukraine
die Schicksale, die ich aus meiner eigenen Familie kenne, gleichen dem, was heute in der Ukraine geschieht. Die Opferzahlen lassen sich bisher nur schätzen. (Siehe Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Casualties_of_the_Russo-Ukrainian_War) Es dürften aktuell (Januar 2023) auf jeder Seite über 60.000 Tote sein. Zusammen über 100.000. Einunderttausend Tote wie Wilhelm Krapalis, entsprechend auch Kriegswitwen und Kriegswaisen.
Jede Waffe, die mehr in die Ukraine geliefert wird, verlängert den Krieg und vervielfacht das Sterben.
Mein Standpunkt dazu
Ich lehne die Sichtweise entschieden ab, die die alleinige Lösung des Ukrainekrieges in mehr Waffen sieht. Es ist menschenverachtend, darauf zu setzen, dass der Tod von weiteren Hunderttausenden von Soldaten der richtige Weg zur Beendigung des Krieges sein soll.
Ich halte es für unrealistisch, Russland derart in die Knie zwingen zu können. Und selbst wenn es gelänge, so würde Russland zuvor alles an die Front schicken, was an menschlichen Reserven und Waffen vorhanden ist. Dieser Preis ist zu hoch, auf beiden Seiten.
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